Vor zwölf Monaten veröffentlichte Mario Draghi, Sonderbeauftragter der EU, seinen umfangreichen Bericht zur Wettbewerbsfähigkeit Europas. Seitdem ist das Dokument zu einer der meistzitierten Studien in Brüssel geworden. Für viele gilt es inzwischen als Leitfaden der europäischen Wirtschaftspolitik.
Die Analyse des ehemaligen EZB-Präsidenten führte zu einer Vielzahl von Maßnahmen und Programmen der Kommission. Unter Schlagwörtern wie Kapitalmarktunion, Binnenmarktstrategie oder Wettbewerbsfähigkeitsfonds wurden in den vergangenen zwölf Monaten zahlreiche Initiativen angestoßen. Doch eine Untersuchung des Thinktanks European Policy Innovation Council zeigt: Nur ein Bruchteil der Empfehlungen ist bisher vollständig umgesetzt, einige Ansätze wurden zumindest teilweise aufgegriffen.
Industriepolitik im Mittelpunkt
Draghi stellte fest, dass die Europäische Union gegenüber den USA und China immer weiter an Boden verliert – sowohl in der Innovationskraft als auch im Handel und in der Verteidigung. Besonders bei Produktivität und Investitionen sah er einen wachsenden Abstand. Er empfahl daher eine neue Industriepolitik, die zentrale Technologien wie Halbleiter oder erneuerbare Energien in Europa halten und Abhängigkeiten verringern soll.
Die Kommission nahm diesen Impuls auf und legte den „Clean Industrial Deal“ vor. Damit sollen Industrieunternehmen unterstützt, Lieferketten stabilisiert und der Standort gestärkt werden. Die Pläne sehen unter anderem Zielmarken für in Europa produzierte grüne Technologien vor. Auch die Lockerung des Beihilferechts ermöglicht es den Mitgliedstaaten, strategisch wichtige Branchen mit finanziellen Hilfen zu fördern.
Profitiert hat zunächst die Autoindustrie, die zeitweise von drohenden Strafzahlungen für CO₂-Überschreitungen entlastet wurde. Andere Maßnahmen sind langfristig angelegt, etwa die Vorgabe, einen erheblichen Teil der Wind- und Solartechnik künftig in der EU zu fertigen. Kritiker weisen jedoch darauf hin, dass ohne tiefgreifende Strukturreformen, etwa am Arbeitsmarkt, das Potenzial der Industriepolitik begrenzt bleiben könnte.
Binnenmarkt mit Grenzen
Eine weitere zentrale Empfehlung Draghis ist die Vollendung des Binnenmarkts. Gerade in den Bereichen Energie und Finanzen bestehen weiterhin nationale Barrieren. So sind die 27 Energienetze bisher nicht ausreichend miteinander verbunden, was eine europaweite Senkung der Energiepreise erschwert. Auch die Kapitalmarktunion kommt nur langsam voran, obwohl sie seit mehr als einem Jahrzehnt auf der Agenda steht.
Die Kommission arbeitet an einem Gesetzesentwurf für den Netzausbau, doch die Frage der Finanzierung bleibt ungeklärt. Ähnlich stockt die Bankenunion: Lediglich kleinere Anpassungen bei der Kreditverbriefung wurden vorgelegt. Eine gemeinsame europäische Einlagensicherung liegt weiter in der Ferne. Nationale Unterschiede verhindern bislang eine tiefere Integration.
Bürokratie im Visier
Ein dritter Schwerpunkt des Berichts betrifft die Regulierung. Draghi kritisierte die Vielzahl europäischer Vorschriften und empfahl, gezielter und weniger umfangreich zu regulieren. Darauf reagierte die Kommission mit Anpassungen im „Green Deal“. So wurden die Regeln zur Nachhaltigkeitsberichterstattung und zur Lieferkette vereinfacht, ebenso der CO₂-Grenzausgleich.
Gleichwohl bleibt die Wirksamkeit umstritten. Experten befürchten, dass der Bürokratieabbau mehr symbolischen Charakter hat, solange grundlegende Fragen zur Sinnhaftigkeit einzelner Gesetze nicht gestellt werden. Für Unternehmen bleibt entscheidend, dass geplante Änderungen zügig beschlossen werden, um Planungssicherheit zu schaffen.
Investitionen bleiben entscheidend
Draghi bezifferte den jährlichen zusätzlichen Investitionsbedarf auf rund 800 Milliarden Euro – eine Größenordnung, die er mit dem historischen Marshall-Plan verglich. Die Mittel sollten überwiegend aus privaten Quellen stammen, wofür ein stärker integrierter Kapitalmarkt nötig wäre. Auch gemeinsame öffentliche Investitionen und eine Ausweitung des EU-Haushalts hielt er für unverzichtbar.
Bisher blieb die Umsetzung hinter diesen Vorstellungen zurück. Zwar plant die Kommission einen Wettbewerbsfähigkeitsfonds im künftigen Haushalt, doch dessen Volumen ist im Vergleich zum Bedarf begrenzt. Neue EU-Schulden lehnen mehrere Mitgliedstaaten ab, und auch die nationalen Budgets lassen kaum Spielraum für große Investitionsprogramme. Eine Analyse von Bruegel zeigt, dass die meisten Länder mittelfristig keine spürbaren Mehrausgaben vorsehen.
Ausblick
Ein Jahr nach Veröffentlichung des Draghi-Berichts steht fest, dass viele seiner Empfehlungen den politischen Diskurs in Brüssel prägen. Erste Maßnahmen wurden eingeleitet, doch die Umsetzung bleibt fragmentarisch und hängt oft an den unterschiedlichen Interessen der Mitgliedstaaten. Während Industriepolitik bereits sichtbare Schritte nach vorne gemacht hat, bleibt der Fortschritt bei Binnenmarkt, Bürokratieabbau und Investitionen überschaubar.
Draghis Diagnose einer wachsenden Wettbewerbslücke ist damit aktueller denn je. Die Diskussion über den künftigen Kurs Europas wird weiterhin von seinen Vorschlägen bestimmt – und dürfte die Union noch weit über diese Kommissionsperiode hinaus begleiten.
